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"Wir müssen in Bewegung bleiben!"

Interview mit Michael Herbst

Michael Herbst, 51, war von 2004 bis 2014 Geschäftsführer des Deutschen Vereins der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf (DVBS e.V.). Zwischen 2002 und 2004 absolvierte er eine berufsbegleitende Fortbildung zum Fundraiser (Mittelbeschaffer) an der Fundraising-Akademie Frankfurt. Michael Herbst leitet heute den Bereich „anwaltschaftliche Arbeit“ bei der Christoffel-Blindenmission Deutschland e.V. (CBM). Er ist verheiratet, hat drei Kinder und lebt in Bensheim und Marburg (Hessen).

Herr Herbst, viele blinde und sehbehinderte Berufstätige zögern, eine berufliche Weiterbildung anzufangen. Oftmals liegen diesem Zögern Unsicherheiten und auch Ängste zugrunde: Ist eine Teilnahme grundsätzlich möglich bzw. ist sie überhaupt erwünscht, sind die Unterlagen barrierefrei gestaltet? Wie ist man Ihrer Anfrage begegnet? Hatte der Anbieter Ihrer Weiterbildung zuvor Erfahrungen mit behinderten Teilnehmern gemacht?

Nein, hatte er nicht. Ich tat im Vorfeld das, was ich bereits früher vor meiner Ausbildung zum Datenverarbeitungs-Organisator gemacht habe. Ich sprach mit dem Chef und sagte ihm sinngemäß: Barrierefreie Literatur, die Charts am besten im vorhinein, Klausurzeitverlängerungen, bisschen Hilfe bei der Navigation… Das war’s.

Gab es zusätzliche Vorbereitungen, die Sie als blinder Teilnehmer im Vorfeld treffen mussten?

Erstmal ging es darum, zum Tagungshaus zu kommen. Da hatte ich Glück: Ein Freund meines Onkels, der das Tagungshaus renovierte hatte, zeigte mir vorher alles. Die anderen Präsenzphasen waren dann kein Problem mehr. Ich verabredete mich unterwegs mit anderen Kursteilnehmern.

Der zweite Punkt war, wie läuft das mit den Gruppen- und Einzelarbeiten. Ich hatte einen Laptop und weil ich reden kann, war ich bald ein gefragter Präsentator von Gruppenarbeiten. Andere machten die PowerPoint und ich erzählte. In der Zeit lernte ich viel über Visualisierungstechniken mit Flipchart und so weiter. Das konnte ich selbst nicht machen, aber ich war irgendwann so weit, dass ich andere Teilnehmer anleiten konnte, die Karten an die gewünschte Position zu pinnen.

Schließlich die Abschlussprüfung: Ich musste ein Organigramm einer Organisation analysieren. Der Akademieleiter hat sie mir beschrieben und ich habe mitnotiert…

Erstmal gab es das Werkbuch, zarte 1.200 Seiten dick. Das bekam ich als PDF-Dokument barrierefrei, mehr oder weniger. Grafiken und Tabellen waren ein Problem: Wenn ich die Infos in ihnen brauchte, suchte ich mir einen Vorleser. Zuhause meine Frau, während der Präsenzphasen Kollegen. Spannend wurde es dann in der Prüfungsvorbereitung: Ich hatte jüngst meine Lesefähigkeit verloren, war immer ein optischer Lerntyp gewesen. Was tun? Ich entschloss mich, das Werkbuch durchzuackern und mir Zusammenfassungen zu schreiben. Die waren bei meinen Kollegen dann ziemlich gefragt. Ich ersetzte optisches Lernen also durch akustisch-haptisches. Hat funktioniert, aber ich saß 2,5 Wochen wirklich zwölf Stunden täglich dran. Hat sich gelohnt…

Es scheint, als hätten sich sowohl die Akademieleitung als auch die Dozenten auf Ihre Bedarfe im Laufe der Zeit eingestellt.

Ich musste schon selbst auf sie zugehen. Die Akademie hat aber routiniert abgefragt, ob ich die Charts haben könnte und sie mir dann zugeleitet, oder ich bekam bei Vorlesungsbeginn einen Stick.

Zu Gute kam mir meine kommunikative Ader. Bei den Dozenten, die eher unsicher wirkten, was sie denn jetzt machen können in ihrer Vorlesung und was nicht, habe ich gesagt: Legen Sie los, wenn ich was nicht verstehe, gehe ich dazwischen. Das habe ich dann auch sofort gemacht. Wenn Gruppenarbeiten kamen, habe ich gesagt: Erklären Sie, was sie vorhaben. Dann haben wir kurz überlegt, wie ich eingebunden werden kann. Die Dozenten haben es als spannende kommunikativ-didaktische Herausforderung gesehen, mich mitzunehmen.

Was ist denn Ihrer Meinung nach eine wünschenswerte Vorbereitung durch die Dozenten?

Ideal wäre, wenn man im Voraus alle Unterlagen einer Vorlesung hätte und auch den Ablauf nebst didaktischer Methoden, die verwendet werden et cetera. Der Rest ist dann in der Tat Selbstorganisation. Wenn dem nicht so ist, ist Improvisationstalent gefragt. Geht auch, ist aber zuweilen stressig. Ich mag es nicht, den Dozenten ihr Konzept über den Haufen zu werfen, nur weil ich jetzt da bin und meine Augen nicht funktionieren. Dann muss ich halt gucken, was ich für mich noch rausziehen kann.

Und wie gestaltete sich die Kooperation mit den anderen Teilnehmenden?

Es war eine super Gruppe. Anfangs wollten sie mir alles abnehmen, jeden Weg mit mir gehen. Dann habe ich ihnen beigebracht, mir Hilfe zur Selbsthilfe zu geben. Zum Schluss haben sie mir zwar immer noch das Essen vom Buffet geholt, aber den Weg zum Seminarraum, zu meinem Zimmer haben sie mir erklärt. Das war soziales Lernen…

Wie sehr waren Sie dennoch auf Assistenz angewiesen?

Naja, Hilfe war schon nötig: bei der Literaturbeschaffung, beim Layouten der Hausarbeiten… Es fiel mir recht leicht, diese Hilfe anzunehmen. Von den Kollegen, weil das Verhältnis einfach gut war und nicht dauernd dieselben halfen. Man wird nicht gleich unautonom, sobald man sich helfen lässt. Es wird erst problematisch, wenn andere bestimmen wollen, wie sie einem helfen. Bei Ausflügen, gemeinsamen Unternehmungen mit der Gruppe, ja, da war ich natürlich auf jemanden angewiesen, bei dem ich im Auto mitfahren kann, der mich führt… Na und…? Dafür habe ich den Anderen mal bei den Hausarbeiten geholfen, sie auf einen Drink eingeladen, um Danke zu sagen… Ich hätte ja auch zuhause bleiben können, aber das kam nicht in Frage für mich.

Wichtig ist, es wäre auch anders gegangen. Mit dem Blindengeld hätte ich Literatur adaptieren, ein Taxi nehmen, mir stundenweise Assistenz beschaffen können… Wer sich entscheidet, in keine spezielle Fortbildungseinrichtung für Blinde zu gehen, der wählt den schwierigeren Weg, behinderungstechnisch gesehen. Aber mit ein bisschen sozialer Kompetenz ist es auch der schönere Weg …

Sind Sie durch Ihren damaligen Arbeitgeber für die Weiterbildung freigestellt worden?

Ja, schließlich kam der Vorschlag von ihm. Die Arbeitsagentur hat einen Teil der Kosten (16.000 Mark insgesamt) übernommen. Die weitere Regelung war dann die, dass ich während der Arbeitszeit Recherchen für meine diversen Hausarbeiten und die Abschlussarbeit machen durfte (der DVBS war ja immer das Fallbeispiel).

Welche Relevanz hatte die Fortbildung für Ihre Tätigkeit?

Als späterer Geschäftsführer beim DVBS konnte ich im Prinzip alles nutzen, was ich an der Akademie gelernt hatte. Bis heute habe ich Budget- und Personalverantwortung. Auch wenn ich heute kein Geld mehr beschaffe, sondern es mit meinem Team eher ausgebe – mein Verständnis dafür, was Fundraiser, was Buchhalter und Geschäftsführer gemeinnütziger Organisationen tun, rührt mit aus der Zeit an der Akademie. Sie war für mich die Brücke aus der Wirtschaft ins Management des 3. Sektors. Voller Erfolg!

Wie wichtig ist Ihrer Einschätzung nach das Thema Fortbildung für blinde und sehbehinderte Berufstätige angesichts des rasanten Wandels in der Arbeitswelt?

Sehr, sehr, sehr wichtig! Unsere berufliche Chance liegt in der Nische, aber eine Nische reicht heute kein Arbeitsleben lang mehr. Wir müssen in Bewegung bleiben. Mühsam, schon, aber auch mit enorm vielen Chancen verbunden. Wir stoßen an Grenzen, was behinderungsspezifische Unterstützung angeht. Längere Auslandsaufenthalte, heute ganz normal für kinderliebe Mädchen und einigermaßen ambitionierte angehende Berufseinsteiger – blind kaum machbar wegen des Territorialprinzips des deutschen Sozialrechtes. Aber wir sollten zumindest die Chancen nutzen, die sich uns bieten und das sind eine ganze Menge.

Was empfehlen Sie anderen blinden und sehbehinderten Berufstätigen, die sich fortbilden wollen?

Fortbildung ist kein Selbstzweck. Wenn man die geeignete Fortbildung gefunden hat, prüfe man sich erstmal selbst: Bin ich einigermaßen sicher im Umgang mit Nichtbehinderten? Wenn ja, dann los… Wenn nein, erst einmal anderswo Erfahrung sammeln. Wichtig ist, dass ein Ziel mit der Fortbildung verbunden ist, das man auch klar formulieren kann. Man begibt sich aus einem Schonraum hinaus ins Unbekannte. Das erfordert ein bisschen Mut und Selbstbewusstsein. Sich dann hinzustellen und Rechte einzufordern, ob zu Recht oder zu Unrecht, ist der Anfang vom Ende jeder Integration. Aufklärung in eigener Sache hingegen, auch mal Danke sagen können – sehr hilfreich. Und ein Letztes: Sei die Lösung eines Problems, nicht das Problem! Nur mit diesem Selbstverständnis kann’s was werden…

Herr Herbst, vielen Dank für das Interview!