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Lesbar heißt nicht barrierefrei

Interview mit Rufus Witt

Rufus Witt (41) ist blind und arbeitet als Sachbearbeiter bei REHADAT, dem Informationssystem zur beruflichen Teilhabe und Inklusion von Menschen mit Behinderung am Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) in Köln. Nach einer Ausbildung zum Fachangestellten für Medien- und Informationsdienste mit dem Schwerpunkt „Information und Dokumentation“ beim Deutschen Rundfunkarchiv in Potsdam und einem einjährigen Praktikum bei der „Frankfurter Rundschau“ kam Witt zu REHADAT, wo er unter anderem das Online-Angebot auf Barrierefreiheit testet sowie für Seminarorganisation und Dokumentation des Blindenhilfsmittelmarkts verantwortlich ist.

Herr Witt, beim Begriff Barrierefreiheit denken Nichtbetroffene meist an Rollstuhlfahrer und Barrieren im öffentlichen Raum. Für blinde und sehbehinderte Menschen stellt sich das Problem jedoch anders  dar. Hier geht es darum, Dinge wahrnehmen zu können. Und das ist nur der erste Schritt: Selbst wenn etwas wahrnehmbar ist, heißt das noch nicht, dass man davon auch Gebrauch machen kann. Sie haben bei einer Weiterbildung ein Lehrbuch bekommen, das für Sie lesbar, aber dennoch unbrauchbar war. Wo lag das Problem?

Ich habe eine Unmenge an unstrukturiertem Text vorgesetzt bekommen. Stellen Sie sich vor, ein Vollsehender erhält ein gedrucktes Buch. Es mag 200 Seiten lang sein, und außer einer einleitenden Überschrift auf der ersten Seite ist kein weiteres Strukturmerkmal vorhanden. Im gesamten Buch macht kein Absatz und keine Überschrift den Beginn eines neuen Abschnitts oder Kapitels deutlich. Genau so geht es Vollblinden, die mit einem Screenreader ein unstrukturiertes Dokument lesen.

Was ist ein Screenreader?

Blinde Menschen bekommen den Bildschirminhalt, also auch ein Dokument oder eine Internetseite, durch eine Software ausgegeben, die sich Screenreader nennt, eben weil sie den Bildschirm „vorliest“. Entweder kommt der Text dann über eine synthetische Sprachausgabe zum blinden Menschen, oder es ist eine Braillezeile angeschlossen – dann kann man den Text mit den Fingern direkt in Blindenpunktschrift lesen.

Was ist erforderlich, damit Sie einen Text sinnvoll lesen und nutzen können?

Ich muss in der Lage sein, mir einen Gesamtüberblick zu verschaffen und anschließend gezielt nach bestimmten Stellen zu suchen. Ich brauche also:

  • Ein Inhaltsverzeichnis, das Sprunglinks enthält, so dass ich direkt zum gewünschten Kapitel springen kann.
  • Verweise und Fußnoten müssen wie das Inhaltsverzeichnis mit direktem Sprunglink versehen sein.
  • Überschriften zur Unterscheidung von Hauptkapiteln und Unterabschnitten eines Kapitels, die mittels Formatvorlagen erstellt wurden. Nur dann kann der Screenreader die verschiedenen Ebenen erkennen – eine rein typographische Hervorhebung nützt blinden Menschen nichts.
  • Eine Lesezeichen-Ansicht, in der noch einmal sämtliche Kapitel und Unterabschnitte hierarchisch in Form eines sogenannten „Strukturbaums“ dargestellt werden, und bei der man bei Bedarf die Feingliederung ein- oder ausblenden kann, ähnlich einem Hilfemenü bei Software-Anwendungen.

Darüber hinaus müssen die Strukturmerkmale von Listen und Tabellen klar definiert sein. Nur wenn erkennbar ist, wann eine Liste anfängt, wann sie endet und ob sie vielleicht noch eine weitere Liste enthält, verstehe ich den Inhalt einer solchen Liste. Genauso verhält es sich mit Tabellen. Ich muss erfassen können, wie viele Spalten und Reihen sie enthält, und sie müssen mir in der richtigen Reihenfolge vorgelesen werden.

Was sind die grundsätzlichen Anforderungen an ein barrierefreies Dokument; wie muss es aufgebaut sein?

Grundlegend für jedes barrierefreie Dokument ist ein zügig erkennbarer Hierarchieaufbau. Wenn ein Screenreader-Nutzer ein neues Dokument zum ersten Mal öffnet, werden ihm in der Regel sofort die Überschriften auffallen. Der Screenreader zeigt immer die Größe und Ordnung der Überschriften an. Es gibt sechs unterschiedliche Überschriftenebenen; in der ersten Zeile eines  Dokuments sollte immer die größte Überschrift, eine „Überschrift Ebene 1“, stehen. Das ist dann der Titel des Gesamtwerkes. Streng genommen darf diese Überschrift im gesamten Dokument jetzt nie mehr vorkommen. Alle weiteren Abschnitte wie Inhaltsverzeichnis, Kapitel und Unterkapitel oder am Ende Verzeichnisse von Fußnoten oder Literaturhinweisen müssen entsprechend mit den Überschriften ab der zweithöchsten Ebene und so weiter beginnen.

Wenn Dokumente inhaltlich relevante Abbildungen oder Diagramme enthalten, müssen diese beschrieben werden. Solche Alternativtexte können Sehende per Mausklick aktivieren, während ein Screenreader sie an der entsprechenden Stelle ausgibt. Bei besonders wichtigen Schaubildern empfiehlt es sich, in einem ausführlichen Text unterhalb der Abbildung alles noch einmal präzise zu beschreiben. So eine Vorgehensweise kann auch sehenden Lesern zu einem besseren Verständnis helfen.

Wie aufwendig ist es Ihrer Meinung nach  barrierefreie Dokumente mittels Formatvorlagen – wie sie zum Beispiel Word zur Verfügung stellt – zu erstellen? Für wie schwierig halten sie die Produktion barrierefreier PDFs?

Wenn man noch keine Routine  in der Arbeit mit Formatvorlagen hat, könnte der Aufwand anfangs höher sein. Andererseits gibt es immer wieder Leute, die irgendwann einmal von selbst damit begonnen haben, in Word standardmäßig mit Formatvorlagen zu arbeiten – langfristig erleichtert das nämlich die Arbeit. Was PDFs anbelangt, fängt meiner Erfahrung nach der Aufwand erst an dem Punkt an, wenn man einen Blinden mit dem Screenreader zum ersten Mal ein neues PDF testen lässt. Denn obwohl Prüfprogramme wie PAC oder auch teure Konvertierungsprogramme weit fortgeschritten sind, können sich immer wieder Fehler einschleichen, die nur vom Screenreader-Test erkannt werden. Nach diesen versteckten Fehlern zu suchen und sie zu beseitigen, kann manchmal sehr lange dauern.

Wir dürfen auch nicht vergessen, dass gerade optisch schön gestaltete Broschüren meist mit Programmen wie InDesign hergestellt werden. Auch dies ist inzwischen barrierefrei möglich. Aber hier wird der Aufwand sicher noch wesentlich höher sein als mit Word. Screenreadertests sind hier vor Veröffentlichung ebenfalls unerlässlich!

Wir haben bisher über barrierefreie Dokumente für blinde Leser gesprochen. Gibt es für sehbehinderte Menschen andere Anforderungen?

Wenn sehbehinderte Menschen, die noch über einen Sehrest verfügen, ohne Screenreader arbeiten können, nutzen sie meist eine Software zur Vergrößerung des Bildschirminhalts. Sie brauchen keine Sprachausgabe oder Braillezeile, wie es bei den meisten gesetzlich Blinden oder bei Vollblinden der Fall ist.

Ein barrierefreies Dokument sollte für Sehbehinderte zunächst in vielen kleinen Schritten unterschiedliche Vergrößerungsstufen anbieten. Das Gesamtdokument mit allen Texten und Grafiken muss sich vergrößern lassen können. In manchen Fällen ist es sinnvoll, wenn es darüber hinaus eine Möglichkeit zur reinen Textvergrößerung gibt.

Auch der Fokus von Maus oder Tastatur sollte immer erkennbar sein: Sehbehinderte müssen nachvollziehen können, an welcher Stelle eines Dokuments sie sich gerade befinden und auch, auf welche Weise sie zu einer anderen Stelle im Dokument gelangen können.

Auch Veränderbarkeit von bestimmten Kontrast- und Farbeinstellungen ist wichtig, um den Dokumentinhalt der jeweiligen Sehbehinderung anpassen zu können.

Eine umfassende Referenz für die Gestaltung von Dokumenten für Sehbehinderte bietet die Seite www.leserlich.info.

Was empfehlen Sie blinden und sehbehinderten Weiterbildungsinteressierten, wenn sie vor einer Weiterbildung in Sachen Barrierefreiheit auf Nummer sicher gehen wollen?

Den meisten Anbietern wird Barrierefreiheit überhaupt nicht bewusst sein. Daher müssen Interessenten vor Kursbeginn genau formulieren, was sie brauchen. Allgemeine Fragen wie „Sind Ihre Dokumente barrierefrei?“ bleiben entweder wegen Unwissen des Anbieters unbeantwortet oder werden womöglich mit „ja“ beantwortet, selbst wenn es gar nicht stimmt. So etwas muss keine bewusste Lüge sein, es zeugt lediglich vom fehlenden Wissen über Barrierefreiheit. Wenn man dem Bildungsanbieter den detaillierten Fragenkatalog vorlegt, wird vermutlich einige Zeit vergehen, bis er die Fragen überhaupt beantworten kann. Ob diese Antworten stimmen, sollten die Interessenten vor Beginn der Weiterbildung testen, indem sie schon einmal Beispiele für das Kursmaterial lesen, um es selbst auf Barrierefreiheit zu prüfen.

Alternativ könnte man beim Anbieter auch nachfragen, ob bereits andere blinde Interessenten Kunden waren.

Herr Witt, vielen Dank für das Interview!